Einen wohlverdienten 3. Platz bei der Leserabstimmung - im Vergleich zum ADAC ungefälscht - erreicht ein Text, der einen völlig neuen Blick auf die politischen Folgen der demografischen Entwicklung warf und einen bleibenden Eindruck bei den Lesern hinterließ.
Daniel Vedder
Daniel Vedder
Dieter Schütz / pixelio.de |
Wir
alle kennen die Zahlen: vor 50 Jahren kamen auf einen Rentner noch
ca. drei Berufstätige, heute sind es knapp einer auf zwei und in
weiteren 50 Jahren sind es möglicherweise gar für jeden
Berufstätigen ein Rentner1.
Wir wissen auch alle, was das bedeutet: höhere Sozialabgaben für
uns, die nachwachsende Generation, der spätere Renteneintritt, und
niedrigere Renten. Oft genug bekommen wir diesen Sachverhalt in der
Schule zu hören. Doch ein Aspekt des vielzitierten demografischen
Wandels ist erstaunlich wenig beachtet. Die Auswirkungen auf die
Wirtschaft kennen wir. Aber was sind die Auswirkungen auf die
Demokratie selbst?
Das Grundmerkmal jeder
Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit. In den großen
demokratischen Revolutionen der letzten 250 Jahre war damit auch fast
immer verknüpft, dass diejenige Bevölkerungsschicht den Staat
führen wollte, die mit ihrer Arbeitsleistung auch die Wirtschaft am
Laufen hielt. Für sie galt das Prinzip „Wer zahlt, schafft an“.
Nicht eine kleine Gruppe fauler Adeliger sollte die Entscheidungen
treffen, sondern die Arbeiter, die erstens in der Mehrheit waren und
die zweitens ohnehin die gesamte Wirtschaftsleistung erbrachten. Sie
wollten ihr Geld selber ausgeben können. Ein durchaus gerechter
Anspruch, aber einer, der in der Rentengesellschaft von Morgen nicht
unproblematisch ist.
Denn
was passiert, wenn die Gruppe, die die demokratische Mehrheit
besitzt, nicht mehr die Gruppe ist, die den Wohlstand erzeugt? Wenn
es mehr Rentner als Beruftstätige gibt? (Es sei zu beachten, dass
hierbei keine absolute Mehrheit nötig ist. Die ältere Generation
muss es nur schaffen, in den regierenden Parteien genug Einfluss zu
erhalten.) Damit könnten die Rentner theoretisch kontrollieren, was
mit dem Geld passiert, dass die Jüngeren verdienen. So warnte der
frühere Bundespräsident Roman Herzog: „Das könnte am Ende in die
Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern.“2
Das wäre demokratisch. Aber wo bliebe unsere hochgeschätzte
Gerechtigkeit?
Andererseits
meint Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel, die Jüngeren würden
„Mittel und Wege finden, sich der Belastung zu entziehen – da
können die Mehrheitsverhältnisse sein wie sie wollen.“2
Wir stehen hier also vor einem schwerwiegenden Dilemma. Auf der einen
Seite haben wir die ältere Generation, die als potentielle
demokratische Mehrheit wider aller Gerechtigkeit die Jüngeren
ausnutzen könnte. Auf der anderen Seite stehen die Berufstätigen,
die ihre Ersparnisse unter allen Umständen selbst verwalten wollen,
und zu dem Zweck vielleicht sogar bereit wären, die in Artikel 20 GG
festgelegten Prinzipien unseres demokratischen Sozialstaats zu
missachten.
Es
scheint eine Wahl zwischen Scylla und Charybdis zu sein – entweder
die Gerechtigkeit oder die Demokratie muss dran glauben. Doch es gibt
einen denkbaren Ausweg: das Familienwahlrecht. Dieses wurde bereits
dreimal im Bundestag vorgeschlagen, zuletzt 2008, jedoch jedes Mal
ergebnislos. Die Idee hinter diesem Gesetzesentwurf ist, den Familien
mehr politischen Einfluss zu geben, indem man auch Kindern das
Wahlrecht gibt. Laut seinen Befürwortern würde dies ein
Gegengewicht schaffen zu den Wahlstimmen der Rentner, und somit der
Politik die nötige Ausrichtung auf Nachhaltigkeit verschaffen. Der
Schutz der Familie ist fest im Grundgesetz verankert (Art. 6), ist
aber auf Grund einer kleinen Familienlobby in der täglichen Politik
nicht immer so wichtig, wie er sein sollte. Mit dem Familienwahlrecht
würde man Politiker zwingen, mehr auf die Familien zu achten, die ja
die Zukunft unserer Gesellschaft darstellen3.
Auch
würde es dem Grundsatz der allgemeinen Wahlen näher kommen als die
momentane Regelung, die unter-18-Jährige von den Wahlen ausschließt.
Das
es dabei aber auch Probleme gibt, liegt auf der Hand. Diese liegen
darin begründet, dass Kinder nicht voll zurechnungsfähig sind. Wenn
dies für ihre Straffähigkeit gilt, warum sollte es für ihr
Wahlrecht anders sein? Die Stimme der Kinder müsste daher
treuhänderisch von den Eltern vergeben werden. Doch welches
Elternteil entscheidet, für welche Partei „das Kind wählen soll“?
Und was, wenn das Kind eine andere Partei bevorzugt als die Eltern,
dies aber auf Grund seiner Minderjährigkeit nicht durchsetzen kann?
Mal ganz abgesehen davon, dass das Wahlrecht ein höchstpersönliches
Recht ist, was bedeutet, dass es überhaupt nicht von einer Person
für eine andere ausgeübt werden darf. Letztlich würde das
treuhänderische Ausüben des Wahlrechts bedeuten, dass die Eltern
mehrere Stimmen hätten – ein klarer Bruch mit dem Prinzip der
gleichen Wahl. Prof.
Isensee aus Bonn meinte hierzu in einem Aufsatz aus dem Jahre 2004,
dass das Familienwahlrecht in seiner momentanen Konzeption einer
Verfassungsänderung bedürfe. Jedoch sei diese im Rahmen dessen, was
das Grundgesetz erlaubt, ließe sich also mit einer
Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag durchsetzen4.
Allerdings setzt eine Zwei-Drittel-Mehrheit eine breite
gesellschaftliche Zustimmung voraus, die momentan noch nicht
vorhanden ist, und die sich auch nicht für die nähere Zukunft
abzeichnet. Es lässt sich schlussfolgern, dass das
Familienwahlrecht, zumindest nach heutiger Sicht, kein realistischer
Lösungsansatz ist für die oben genannten Probleme.
Also
quo vadis, Deutschland? Die Gefahren einer Altenrepublik sind klar
erkennbar. Leider wissen wir noch nicht, wie wir damit umgehen
sollen. Hier braucht es eine verstärkte öffentliche Debatte, die
diesen Sachverhalt thematisiert, bevor es zu spät ist. Bei allem
Pessimismus sei jedoch auch angemerkt, dass die Daten, die unseren
Befürchtungen zu Grunde liegen, Vorausberechnungen sind, mit allen
damit verbundenen Unsicherheiten. Es könnte also sein, dass sie nie
eintreffen, und dass wir die beschriebenen Probleme nie haben werden.
Nichtsdestotrotz müssen wir gerüstet sein, denn die Möglichkeit
eines Fehlalarms entschuldigt nicht das Fernbleiben der
Rettungskräfte. Wie Malcom X sagte: „Die Zukunft gehört denen,
die sich schon heute darauf vorbereiten.“
Quellen
- „Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur“, Bundeszentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61541/altersstruktur
- „Kampf der Generationen: Herzog warnt vor 'Rentner-Demokratie“, Spiegel Online, 2008 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kampf-der-generationen-herzog-warnt-vor-rentner-demokratie-a-546690.html
- Schmidt, Renate (2004). „Anmerkungen der Bundesministerin Renate Schmidt zum Familienwahlrecht“, Humboldt Forum Recht http://www.humboldt-forum-recht.de/deutsch/2-2004/beitrag.html
- Isensee, Josef (2004). „Familienwahlrecht und Grundgesetz“, Humboldt Forum Recht http://www.humboldt-forum-recht.de/druckansicht/druckansicht.php?artikelid=38
Ich habe immer noch die Sorge, dass das Familienwahlrecht, obwohl verfassungstechnisch fragwürdig, vielleicht die einzige Lösung ist.
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