Daniel Vedder
Monatsthema 10/2013
Monatsthema 10/2013
Kaum
ein Buch war 2012 kontroverser als Prof. Manfred Spitzers Werk
„Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand
bringen“1.
Insbesondere die jüngere Generation, die allbekannten „Digital
Natives“, sind schnell dabei, es als unrealistisch und
fortschrittsfeindlich abzutun. In diesem Geiste erwähnte auch ich es
vor ein paar Monaten in einem Essay, der kürzlich auf CATO
publiziert wurde2.
In der Zwischenzeit wurde ich jedoch von einem Bekannten dazu
angeregt, das Buch auch selbst einmal zu lesen (bis dahin hatte ich
lediglich eine Rezension gelesen3).
Nun muss ich sagen: Spitzer hat mich beeindruckt. Ganz überzeugt hat
er mich aber noch nicht.
Meine eingängliche
Skepsis richtete sich vornehmlich auf die Wissenschaftlichkeit des
Buches. Erwartet hatte ich eine Abhandlung, die mehr mit
Verschwörungstheorien und Alt-Weiber-Märchen zu tun hat als mit
aktueller Forschung. Gründlicher hätte ich mich nicht irren können.
Der Autor wartet mit einer 20-seitigen kleingedruckten Literaturliste
auf, die fast gänzlich aus renommierten Fachjournalen entnommen ist.
Auch interpretiert er diese Studien richtig, soweit ich das als Laie
einschätzen kann. An seinem Fachwissen ist nicht zu zweifeln,
schließlich hat er nicht umsonst zwei Doktorgrade erlangt, außerdem
war er zwei mal Gastprofessor in Harvard. Trotzdem sind die vielen
informativen Passagen zur Funktionsweise des Gehirns sind sehr gut
und anschaulich geschrieben.
Doch obwohl er auf viele
tatsächliche Probleme hinweist, die unbedingt anzupacken sind, finde
ich manche seiner Schlussfolgerungen zweifelhaft. Um dies zu
erläutern, möchte ich einen kurzen Überblick über seine Thesen
geben. Diese lassen sich grob in drei Bereiche gliedern: Bildung,
Jugend und Kindheit.
Seiner
Meinung nach haben Computer und verwandte Technologien in der Schule
nichts zu suchen. Das begründet er damit, dass sie zu einer zu
oberflächlichen Verarbeitung des Lernstoffs führen, wodurch dieser
sich nicht richtig im Gedächtnis verankern kann. Er bringt das
Beispiel einer Deutschstunde zu Wortstämmen in einer medial gut
ausgestatteten Grundschule. Anstatt des traditionellen Abschreibens
des Wortstamms und der dazugehörigen Vor- und Nachsilben („glück“
+ „lich“ => „glücklich“, etc.), mussten die Kinder hier
die verschiedenen Wortteile lediglich auf einem Smartboard
zusammenziehen. Obwohl die Schüler sich sicher gefreut haben,
weniger schreiben zu müssen, zeigen die zuvor vom Autor erwähnten
Studien, dass solch oberflächliches Lernen sehr viel ineffektiver
ist als das „altertümliche“ Abschreiben, bei dem man sich
intensiver mit der Materie befassen muss. So weit so gut. Wenn
solcher Gebrauch der neuen Technologien kontraproduktiv ist, dann
sollte man die Schulen darüber informieren und ihn künftig
unterlassen. Doch mit dieser Begründung jeglichen Gebrauch von
Computermedien in der Bildung zu verbieten, missachtet all ihre
anderen Anwendungsbereiche. So können Animationen und Lernspiele
durchaus sehr positive Effekte auf das schulische Lernen haben, wenn
sie richtig eingesetzt werden4.
Natürlich darf man nicht alles gut nennen, nur weil Computer im
Spiel sind. Doch wenn computergestützte Lernmethoden auf den
Erkenntnissen der Forschung beruhen, steht ihrer Anwendung im
Schulalltag meines Erachtens nach nichts im Wege. Auch sein Argument,
dass Lehrer nicht gut genug mit den regelmäßig auftretenden
technischen Störungen klarkommen und der Unterricht darunter leidet,
ist mehr ein Argument für eine bessere Schulung unserer Lehrkräfte
als für ein Abschaffen der Medien.
Auch
mit dem Internet hat Prof. Spitzer Probleme, was Bildung angeht. Er
zeigt auf, dass wir uns auf Grund der Allpräsenz von Google,
Wikipedia & Co. immer weniger Fakten selber merken. (Aus dem
gleichen Grund können wir kaum noch Telefonnummern auswendig können,
weil wir sie alle im Handy abgespeichert haben; genauso wie unser
Orientierungssinn durch die konstante Nutzung von Navigationssystemen
immer schlechter wird.) Diese Beobachtung mag zwar durchaus valide
sein, ein großes Problem sehe ich darin jedoch nicht. Wie eine
andere Rezensentin schrieb: „Das ist – 40 Jahre danach – im
Wesentlichen dasselbe Argument wie, dass die Kinder nicht mehr
kopfrechnen können, weil sie alle den Taschenrechner benutzen. Aber
es wäre absurd, deswegen ein überaus nützliches Werkzeug zu
verbieten.“3
Das Riesenpotenzial, das das Internet für Plagiate bietet, worauf er
hinweist, möchte ich nicht kleinreden. Aber was war die letzte große
technische Errungenschaft, die nicht auch zum Schlechten verwendet
werden konnte? Schade finde ich, dass er die zahlreichen guten
Bildungsangebote völlig ignoriert, die im Internet zu finden sind.
Die Massive Open Online Courses wie Udacity oder Coursera, die ich im
letzten Artikel erwähnte2,
sind hier nur ein Beispiel unter vielen.
Was
die Jugend betrifft, kritisiert er am meisten deren Nutzung von –
wie kann es anders sein – digitalen sozialen Netzwerken. Wer nur
noch Onlinefreunde hat, würde keine vernünftige Sozialkompetenz
erlernen und das soziales Zentrum im Gehirn würde verkümmern. Diese
Argumentationsfolge kann er sogar recht gut anhand diverser Studien
belegen. Seine zu Grunde liegende Behauptung jedoch, dass heutige
Jugendliche viel mehr Onlinekontakte haben als „echte“ Freunde,
stützt er auf eine Umfrage unter den jungen Leserinnen eines
US-amerikanischen Mädchenmagazins. Inwieweit diese als repräsentativ
für alle Jugendlichen in der gesamten westlichen Welt gelten kann,
sei dahingestellt. Diese Frage ist wichtig, denn selbst Spitzer muss
zugeben, dass soziale Netzwerke ihren negativen Effekt verlieren,
wenn man sie nur benutzt, um mit echten Bekannten in Kontakt zu
bleiben. Dennoch ist seine Warnung gerechtfertigt, hier bedarf es
einer guten Medienerziehung, um Teenager frühzeitig auch vor der
Problematik sozialer Netzwerke zu warnen. Schwach ist in diesem
Kapitel der Abschnitt über Cybermobbing. Natürlich ist es ein
großes, sehr bedauernswertes, Problem, aber dass es Mobbing auch
schon vor dem Internet gegeben hat, wird völlig ausgeklammert. Ein
ganzes Kapitel widmet er dem Multitasking – und zeigt, dass
häufiges Multitasking verschiedene geistige,
aufmerksamkeits-relevante Fähigkeiten vermindert. Kritisieren kann
ich hier inhaltlich nichts, es verbleibt bei dem individuellen
Internetnutzer, seine Gewohnheiten ggf. anzupassen. Interessant finde
ich jedoch die Spekulation der oben genannten Rezensentin, unsere
Gehirne könnten sich in den nächsten Jahren an die neuen
Erfordernisse des Internetzeitalters anpassen, und so diesen
negativen Effekt ausgleichen3.
Letztlich geht Spitzer noch auf die Gefahren exzessiver Mediennutzung
ein, die von chronischem Schlafentzug und Depression bis zur Sucht
reichen. Auch die Abstumpfung gegenüber Gewalt als Folge von
Ego-Shootern o.ä. Videospielen wird angesprochen. Obwohl die meisten
meiner Leser bei diesen Themen sicherlich kritisch sein werden, ist
mir kein Sachverhalt bekannt, der Spitzers Argumentation und seine
angeführten Belege hier schwächen könnte.
Der Rest des Buches
thematisiert hauptsächlich die Auswirkung von Mediennutzung im
frühen Kindesalter. Die Forschung scheint eindeutig zu bestätigen,
dass zu früher Medienkonsum die kognitive Entwicklung des Kindes
hemmt. Selbst sog. „Baby-Einstein“ DVDs, die angeblich eben jene
fördern sollen, erfüllen ihr Versprechen nicht. Darum ist es höchst
beunruhigend, dass anscheinend viele Eltern den Fernseher schon für
ihre 18-monatigen Kleinkinder als „Ersatzerzieher“ benutzen. Auch
später hängt der Besitz eines eigenen Computers fast immer mit
schlechteren Schulleistungen zusammen, da dieser hauptsächlich zum
Spielen verwendet wird, wodurch für Schularbeiten weniger Zeit zur
Verfügung steht. Hier sind Eltern gefragt, die Mediennutzung des
eigenen Kindes zu seinem eigenen Wohl einzuschränken und zu
kontrollieren.
Natürlich konnte ich in
diesem Artikel längst nicht alle Argumente aufgreifen, die Spitzer
bringt. Ich wollte jedoch einen hoffentlich ausgewogenen Überblick
über ein Buch geben, das viel zu häufig einseitig beurteilt wird.
Obwohl die darin benutzte Sprache manchmal bedauernswerter Weise
etwas unsachlich ist, beinhaltet es viele gute Beobachtungen.
„Digitale Demenz“ ist kein Buch, das wir uns als Gesellschaft
leisten können, zu ignorieren – weder als Jugendliche, noch als
Eltern und Erzieher, noch als Politiker. Nichtsdestotrotz ist es
stets mit Vorsicht zu genießen.
Quellen
- Spitzer M (2012) „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, Droemer Verlag, München
- Vedder D (2013) „Unsere Jugend – Ausgeburt der Cyberhölle?“ CATO http://cato-online.blogspot.de/2013/08/unsere-jugend-ausgeburt-der-cyberholle.html
- Fischer J (2013) „Denkst du noch, oder klickst du schon?“ Spektrum der Wissenschaft Juli 2013, S. 100
- Mayer RE, Moreno R (2002) „Animation as an Aid to Multimedia Learning“ Education Psychology Review 14(1):87-99
Auch wenn ich keine Lektüre des Buches vorweisen kann und nur einige mal den Autor bei der populistischen Ausschlachtung seiner Argumente im Fernsehen beobachten konnte, so habe ich dennoch - im Zuge der Unterstützung deiner Ansicht - folgendes hinzuzufügen:
AntwortenLöschen1. Auch ich habe sehr viele Medien auch im frühen Kindesalter konsumiert. Dennoch habe ich mich wunderbar entwickelt, und ich bin kein zurückgebliebener mediensüchtiger Prolet. Im Gegenteil, Medien boten mir eine wunderbare Möglichkeit, meinen Wissensdurst zu stillen.
2. Angelehnt daran und der obigen Ergebnisse plädiere ich dafür, die Kritik der Technologie differenziert nach der Verwendungsweise zu sehen. Spielt man den ganzen Tag Ego-Shooter, sammelt Likes und guckt "Deppen am Nachmittag!", so ist dies kritisch zu bewerten. Bildet man sich hingegen fort und baut ein tragfähiges, überregionales soziales Netzwerk (echte Freundschaften zählen keine Kilometer), so kann dies äußerst bereichernd sein.
Deinem 2. Punkt stimme ich auf jeden Fall zu. Das ist Spitzers größte Schwäche: er kritisiert (völlig legitim) einen bestimmten Aspekt an den neuen Technologien, will dann aber wegen diesem einen Problem gleich das Kind mit dem Badewasser wegkippen.
AntwortenLöschenDem Beispiel aus der Deutschstunde und der Kritik an der Nutzung des Smartboard kann ich nur zustimmen. Diese Form des Schreiben lernens mag zwar für Schüler unterhaltsam sein, aber sie ist nicht erfolgreich.
AntwortenLöschenHierzu ist mir das dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz zugeschriebene Zitat eingefallen.
Nur was man auch wiederholt angewendet hat bleibt auch im Gedächtnis. Dass man bildlich sieht, das "glück" und " lich" zusammengehören reicht nicht.
Man muss die Worte oft geschrieben haben.Mehrfach.
Viele neue Medien arbeiten bevorzugt mit dem Sehsinn. Es besteht die Gefahr dass wir dadurch einige andere Kompetenzen venachlässigen.
Zitat:
Gemeint ist nicht gesagt,
gesagt ist nicht gehört,
gehört ist nicht verstanden.
Verstanden ist nicht einverstanden,
einverstanden ist nicht angewendet,
angewendet ist nicht beibehalten.
ich sehe die Problematik der Sozialen Netzwerke nicht.
AntwortenLöschenUns und allen Nutzern von Facebook und Co. ist doch klar, dass die "Freunde" in den sozialen Netzwerken nicht die Qualität von Freunden im herkömmlichen Sinn haben. Die Ferude auf Facebook und Xing und Co sind sind oftmals nur das was mann früher in Papierform im Adressbuch notiert hatte. Man hat sich damals die Adresse notiert,um bei Bedarf in Kontakt treten zu können.
Stimmt, aber du musst mitbeachten das soziale Netzwerke unser gesamtes Sozialverhalten übefordern und die Problematik der steten Vergrößerung sozialer Gruppen seit dem Geburtenboom der Industrialisierung in eine neue Dimension führen.
AntwortenLöschenWir sind nicht darauf ausgelegt, uns der gesamten Weltbevölkerung zu präsentieren und in unser soziales Netz zu integrieren. Wir sind mit der Masse unserer Mitmenschen überfordert.
@Anonym1
AntwortenLöschenHier ist die Pädagogik gefragt, digitale Lerninhalte basierend auf den Prinzipien der kognitiven Forschung zu erstellen, wie ich schon oben sagte. Wird dies gemacht, so können die neuen Medien einen wertvollen Beitrag zum Unterricht leisten. Geschieht dies jedoch nicht, verschwendet man bestensfalls Unterrichtzeit, schlimmstenfalls schadet man der Entwicklung der Schüler. Das gleiche gilt übrigens für jede, auch nicht-digitale, Art der schulischen Wissensvermittlung.
Hierzu eine kleine Anekdote: vor ein paar Jahren nahmen wir in Chemie ein (für unsere damaligen Verhältnisse) recht kompliziertes Thema durch. Die Lehrerin gab ihr Bestes, es uns zu erklären; jedoch war es erst, als wir in einer "Entspannungsstunde" nach der Klausur einen Lernfilm zu besagtem Sachverhalt schauten, dass der Großteil der Klasse ihn auch tatsächlich verstand. Wir wünschten uns nachher alle, die Lehrkraft hätte uns den Film früher gezeigt...
@Anonym2
Solange du das so siehst, schaden dir soziale Onlinenetzwerke auch nicht, zumindest nicht in dem oben angesprochenen Sinne. Dies gibt sogar Prof. Spitzer zu. Es ist erst, wenn Facebook & Co. dein reales soziales Netzwerk ersetzen, dass es Probleme gibt.