Mittwoch, 9. Oktober 2013

Daniel Vedder
Monatsthema 10/2013

Kaum ein Buch war 2012 kontroverser als Prof. Manfred Spitzers Werk „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“1. Insbesondere die jüngere Generation, die allbekannten „Digital Natives“, sind schnell dabei, es als unrealistisch und fortschrittsfeindlich abzutun. In diesem Geiste erwähnte auch ich es vor ein paar Monaten in einem Essay, der kürzlich auf CATO publiziert wurde2. In der Zwischenzeit wurde ich jedoch von einem Bekannten dazu angeregt, das Buch auch selbst einmal zu lesen (bis dahin hatte ich lediglich eine Rezension gelesen3). Nun muss ich sagen: Spitzer hat mich beeindruckt. Ganz überzeugt hat er mich aber noch nicht.

Meine eingängliche Skepsis richtete sich vornehmlich auf die Wissenschaftlichkeit des Buches. Erwartet hatte ich eine Abhandlung, die mehr mit Verschwörungstheorien und Alt-Weiber-Märchen zu tun hat als mit aktueller Forschung. Gründlicher hätte ich mich nicht irren können. Der Autor wartet mit einer 20-seitigen kleingedruckten Literaturliste auf, die fast gänzlich aus renommierten Fachjournalen entnommen ist. Auch interpretiert er diese Studien richtig, soweit ich das als Laie einschätzen kann. An seinem Fachwissen ist nicht zu zweifeln, schließlich hat er nicht umsonst zwei Doktorgrade erlangt, außerdem war er zwei mal Gastprofessor in Harvard. Trotzdem sind die vielen informativen Passagen zur Funktionsweise des Gehirns sind sehr gut und anschaulich geschrieben.
Doch obwohl er auf viele tatsächliche Probleme hinweist, die unbedingt anzupacken sind, finde ich manche seiner Schlussfolgerungen zweifelhaft. Um dies zu erläutern, möchte ich einen kurzen Überblick über seine Thesen geben. Diese lassen sich grob in drei Bereiche gliedern: Bildung, Jugend und Kindheit.
Seiner Meinung nach haben Computer und verwandte Technologien in der Schule nichts zu suchen. Das begründet er damit, dass sie zu einer zu oberflächlichen Verarbeitung des Lernstoffs führen, wodurch dieser sich nicht richtig im Gedächtnis verankern kann. Er bringt das Beispiel einer Deutschstunde zu Wortstämmen in einer medial gut ausgestatteten Grundschule. Anstatt des traditionellen Abschreibens des Wortstamms und der dazugehörigen Vor- und Nachsilben („glück“ + „lich“ => „glücklich“, etc.), mussten die Kinder hier die verschiedenen Wortteile lediglich auf einem Smartboard zusammenziehen. Obwohl die Schüler sich sicher gefreut haben, weniger schreiben zu müssen, zeigen die zuvor vom Autor erwähnten Studien, dass solch oberflächliches Lernen sehr viel ineffektiver ist als das „altertümliche“ Abschreiben, bei dem man sich intensiver mit der Materie befassen muss. So weit so gut. Wenn solcher Gebrauch der neuen Technologien kontraproduktiv ist, dann sollte man die Schulen darüber informieren und ihn künftig unterlassen. Doch mit dieser Begründung jeglichen Gebrauch von Computermedien in der Bildung zu verbieten, missachtet all ihre anderen Anwendungsbereiche. So können Animationen und Lernspiele durchaus sehr positive Effekte auf das schulische Lernen haben, wenn sie richtig eingesetzt werden4. Natürlich darf man nicht alles gut nennen, nur weil Computer im Spiel sind. Doch wenn computergestützte Lernmethoden auf den Erkenntnissen der Forschung beruhen, steht ihrer Anwendung im Schulalltag meines Erachtens nach nichts im Wege. Auch sein Argument, dass Lehrer nicht gut genug mit den regelmäßig auftretenden technischen Störungen klarkommen und der Unterricht darunter leidet, ist mehr ein Argument für eine bessere Schulung unserer Lehrkräfte als für ein Abschaffen der Medien.
Auch mit dem Internet hat Prof. Spitzer Probleme, was Bildung angeht. Er zeigt auf, dass wir uns auf Grund der Allpräsenz von Google, Wikipedia & Co. immer weniger Fakten selber merken. (Aus dem gleichen Grund können wir kaum noch Telefonnummern auswendig können, weil wir sie alle im Handy abgespeichert haben; genauso wie unser Orientierungssinn durch die konstante Nutzung von Navigationssystemen immer schlechter wird.) Diese Beobachtung mag zwar durchaus valide sein, ein großes Problem sehe ich darin jedoch nicht. Wie eine andere Rezensentin schrieb: „Das ist – 40 Jahre danach – im Wesentlichen dasselbe Argument wie, dass die Kinder nicht mehr kopfrechnen können, weil sie alle den Taschenrechner benutzen. Aber es wäre absurd, deswegen ein überaus nützliches Werkzeug zu verbieten.“3 Das Riesenpotenzial, das das Internet für Plagiate bietet, worauf er hinweist, möchte ich nicht kleinreden. Aber was war die letzte große technische Errungenschaft, die nicht auch zum Schlechten verwendet werden konnte? Schade finde ich, dass er die zahlreichen guten Bildungsangebote völlig ignoriert, die im Internet zu finden sind. Die Massive Open Online Courses wie Udacity oder Coursera, die ich im letzten Artikel erwähnte2, sind hier nur ein Beispiel unter vielen.
Was die Jugend betrifft, kritisiert er am meisten deren Nutzung von – wie kann es anders sein – digitalen sozialen Netzwerken. Wer nur noch Onlinefreunde hat, würde keine vernünftige Sozialkompetenz erlernen und das soziales Zentrum im Gehirn würde verkümmern. Diese Argumentationsfolge kann er sogar recht gut anhand diverser Studien belegen. Seine zu Grunde liegende Behauptung jedoch, dass heutige Jugendliche viel mehr Onlinekontakte haben als „echte“ Freunde, stützt er auf eine Umfrage unter den jungen Leserinnen eines US-amerikanischen Mädchenmagazins. Inwieweit diese als repräsentativ für alle Jugendlichen in der gesamten westlichen Welt gelten kann, sei dahingestellt. Diese Frage ist wichtig, denn selbst Spitzer muss zugeben, dass soziale Netzwerke ihren negativen Effekt verlieren, wenn man sie nur benutzt, um mit echten Bekannten in Kontakt zu bleiben. Dennoch ist seine Warnung gerechtfertigt, hier bedarf es einer guten Medienerziehung, um Teenager frühzeitig auch vor der Problematik sozialer Netzwerke zu warnen. Schwach ist in diesem Kapitel der Abschnitt über Cybermobbing. Natürlich ist es ein großes, sehr bedauernswertes, Problem, aber dass es Mobbing auch schon vor dem Internet gegeben hat, wird völlig ausgeklammert. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Multitasking – und zeigt, dass häufiges Multitasking verschiedene geistige, aufmerksamkeits-relevante Fähigkeiten vermindert. Kritisieren kann ich hier inhaltlich nichts, es verbleibt bei dem individuellen Internetnutzer, seine Gewohnheiten ggf. anzupassen. Interessant finde ich jedoch die Spekulation der oben genannten Rezensentin, unsere Gehirne könnten sich in den nächsten Jahren an die neuen Erfordernisse des Internetzeitalters anpassen, und so diesen negativen Effekt ausgleichen3. Letztlich geht Spitzer noch auf die Gefahren exzessiver Mediennutzung ein, die von chronischem Schlafentzug und Depression bis zur Sucht reichen. Auch die Abstumpfung gegenüber Gewalt als Folge von Ego-Shootern o.ä. Videospielen wird angesprochen. Obwohl die meisten meiner Leser bei diesen Themen sicherlich kritisch sein werden, ist mir kein Sachverhalt bekannt, der Spitzers Argumentation und seine angeführten Belege hier schwächen könnte.
Der Rest des Buches thematisiert hauptsächlich die Auswirkung von Mediennutzung im frühen Kindesalter. Die Forschung scheint eindeutig zu bestätigen, dass zu früher Medienkonsum die kognitive Entwicklung des Kindes hemmt. Selbst sog. „Baby-Einstein“ DVDs, die angeblich eben jene fördern sollen, erfüllen ihr Versprechen nicht. Darum ist es höchst beunruhigend, dass anscheinend viele Eltern den Fernseher schon für ihre 18-monatigen Kleinkinder als „Ersatzerzieher“ benutzen. Auch später hängt der Besitz eines eigenen Computers fast immer mit schlechteren Schulleistungen zusammen, da dieser hauptsächlich zum Spielen verwendet wird, wodurch für Schularbeiten weniger Zeit zur Verfügung steht. Hier sind Eltern gefragt, die Mediennutzung des eigenen Kindes zu seinem eigenen Wohl einzuschränken und zu kontrollieren.
Natürlich konnte ich in diesem Artikel längst nicht alle Argumente aufgreifen, die Spitzer bringt. Ich wollte jedoch einen hoffentlich ausgewogenen Überblick über ein Buch geben, das viel zu häufig einseitig beurteilt wird. Obwohl die darin benutzte Sprache manchmal bedauernswerter Weise etwas unsachlich ist, beinhaltet es viele gute Beobachtungen. „Digitale Demenz“ ist kein Buch, das wir uns als Gesellschaft leisten können, zu ignorieren – weder als Jugendliche, noch als Eltern und Erzieher, noch als Politiker. Nichtsdestotrotz ist es stets mit Vorsicht zu genießen.

Quellen

  1. Spitzer M (2012) „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, Droemer Verlag, München
  2. Vedder D (2013) „Unsere Jugend – Ausgeburt der Cyberhölle?“ CATO http://cato-online.blogspot.de/2013/08/unsere-jugend-ausgeburt-der-cyberholle.html
  3. Fischer J (2013) „Denkst du noch, oder klickst du schon?“ Spektrum der Wissenschaft Juli 2013, S. 100
  4. Mayer RE, Moreno R (2002) „Animation as an Aid to Multimedia Learning“ Education Psychology Review 14(1):87-99

6 Kommentare:

  1. Auch wenn ich keine Lektüre des Buches vorweisen kann und nur einige mal den Autor bei der populistischen Ausschlachtung seiner Argumente im Fernsehen beobachten konnte, so habe ich dennoch - im Zuge der Unterstützung deiner Ansicht - folgendes hinzuzufügen:
    1. Auch ich habe sehr viele Medien auch im frühen Kindesalter konsumiert. Dennoch habe ich mich wunderbar entwickelt, und ich bin kein zurückgebliebener mediensüchtiger Prolet. Im Gegenteil, Medien boten mir eine wunderbare Möglichkeit, meinen Wissensdurst zu stillen.
    2. Angelehnt daran und der obigen Ergebnisse plädiere ich dafür, die Kritik der Technologie differenziert nach der Verwendungsweise zu sehen. Spielt man den ganzen Tag Ego-Shooter, sammelt Likes und guckt "Deppen am Nachmittag!", so ist dies kritisch zu bewerten. Bildet man sich hingegen fort und baut ein tragfähiges, überregionales soziales Netzwerk (echte Freundschaften zählen keine Kilometer), so kann dies äußerst bereichernd sein.

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  2. Deinem 2. Punkt stimme ich auf jeden Fall zu. Das ist Spitzers größte Schwäche: er kritisiert (völlig legitim) einen bestimmten Aspekt an den neuen Technologien, will dann aber wegen diesem einen Problem gleich das Kind mit dem Badewasser wegkippen.

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  3. Dem Beispiel aus der Deutschstunde und der Kritik an der Nutzung des Smartboard kann ich nur zustimmen. Diese Form des Schreiben lernens mag zwar für Schüler unterhaltsam sein, aber sie ist nicht erfolgreich.
    Hierzu ist mir das dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz zugeschriebene Zitat eingefallen.
    Nur was man auch wiederholt angewendet hat bleibt auch im Gedächtnis. Dass man bildlich sieht, das "glück" und " lich" zusammengehören reicht nicht.
    Man muss die Worte oft geschrieben haben.Mehrfach.
    Viele neue Medien arbeiten bevorzugt mit dem Sehsinn. Es besteht die Gefahr dass wir dadurch einige andere Kompetenzen venachlässigen.


    Zitat:

    Gemeint ist nicht gesagt,
    gesagt ist nicht gehört,
    gehört ist nicht verstanden.
    Verstanden ist nicht einverstanden,
    einverstanden ist nicht angewendet,
    angewendet ist nicht beibehalten.


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  4. ich sehe die Problematik der Sozialen Netzwerke nicht.
    Uns und allen Nutzern von Facebook und Co. ist doch klar, dass die "Freunde" in den sozialen Netzwerken nicht die Qualität von Freunden im herkömmlichen Sinn haben. Die Ferude auf Facebook und Xing und Co sind sind oftmals nur das was mann früher in Papierform im Adressbuch notiert hatte. Man hat sich damals die Adresse notiert,um bei Bedarf in Kontakt treten zu können.

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  5. Stimmt, aber du musst mitbeachten das soziale Netzwerke unser gesamtes Sozialverhalten übefordern und die Problematik der steten Vergrößerung sozialer Gruppen seit dem Geburtenboom der Industrialisierung in eine neue Dimension führen.
    Wir sind nicht darauf ausgelegt, uns der gesamten Weltbevölkerung zu präsentieren und in unser soziales Netz zu integrieren. Wir sind mit der Masse unserer Mitmenschen überfordert.

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  6. @Anonym1
    Hier ist die Pädagogik gefragt, digitale Lerninhalte basierend auf den Prinzipien der kognitiven Forschung zu erstellen, wie ich schon oben sagte. Wird dies gemacht, so können die neuen Medien einen wertvollen Beitrag zum Unterricht leisten. Geschieht dies jedoch nicht, verschwendet man bestensfalls Unterrichtzeit, schlimmstenfalls schadet man der Entwicklung der Schüler. Das gleiche gilt übrigens für jede, auch nicht-digitale, Art der schulischen Wissensvermittlung.
    Hierzu eine kleine Anekdote: vor ein paar Jahren nahmen wir in Chemie ein (für unsere damaligen Verhältnisse) recht kompliziertes Thema durch. Die Lehrerin gab ihr Bestes, es uns zu erklären; jedoch war es erst, als wir in einer "Entspannungsstunde" nach der Klausur einen Lernfilm zu besagtem Sachverhalt schauten, dass der Großteil der Klasse ihn auch tatsächlich verstand. Wir wünschten uns nachher alle, die Lehrkraft hätte uns den Film früher gezeigt...

    @Anonym2
    Solange du das so siehst, schaden dir soziale Onlinenetzwerke auch nicht, zumindest nicht in dem oben angesprochenen Sinne. Dies gibt sogar Prof. Spitzer zu. Es ist erst, wenn Facebook & Co. dein reales soziales Netzwerk ersetzen, dass es Probleme gibt.

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CATOteam 2013
Ceterum censeo...