Daniel Vedder
Monatsthema 8/2014
Vor 100 Jahren
stürzte sich Europa in einen Krieg, der die Welt für immer verändern würde.
Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs wird momentan viel diskutiert, doch wie
sieht es mit den Auswirkungen aus? Wie beeinflusste der „große Krieg“ die
Politik, die Weltgeschichte, die Technologie, das tägliche Leben?
Die offensichtlichsten
Änderungen, die der Krieg herbeiführte, sind weltpolitischer Art. Betrachten
wir das Vorkriegs-Europa, sehen wir eine Ansammlung großer Imperien, die
größtenteils schon seit Hunderten von Jahren Bestand hatten. Das British
Empire, seit seinem Sieg über die spanische Armada im 17. Jahrhundert die
Seemacht Nummer eins, beherrscht ein Viertel der gesamten Landfläche der Erde.
Frankreich, dessen Kolonien knapp die Hälfte Afrikas bedecken, besitzt auch im
Fernen Osten Territorien. Dann gibt es noch Österreich-Ungarn, dessen
herrschendes Habsburger Geschlecht seit Ende des Mittelalters in fast allen
Königshäusern Europas vertreten ist. Das deutsche Kaiserreich, vereinigt unter
der Führung Preußens, das auch schon seit Friedrich dem Großen eine ernst zu
nehmende Macht darstellt. Russland, dessen Zaren sich als Erben der
Oströmischen Kaiser sehen. Und letztendlich das Osmanische Reich, das seinerzeit
mit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 die Linie eben jener Kaiser
beendete.
Und wie sah es damit
nach dem Krieg aus? Der Vertrag von Sèvres zerstörte 1920 das Osmanische Reich
und die heutige Türkei wurde geboren. In diesem Zuge übernahm Großbritannien
das Mandat über Palästina, wo es durch sein widersprüchliches Handeln den
aufkeimenden Arabisch-Israelischem Konflikt verstärkte. Auch Österreich verlor
seinen Status als Großmacht als die Verträge von Saint-Germain und Trianon es
von Ungarn abspalteten. Es verlor seine Gebiet, den Großteil seiner Armee und
seinen Kaiser. Zwei historische Reiche waren fast von einem Tag auf den anderen
in sich zusammengefallen.
An ihre Stelle traten
zwei neue Mächte. Russland, dessen rote Revolution 1917 den Zar gestürzt hatte,
hatte sich in die Sowjetunion verwandelt. Die USA bewies mit ihrem Eingriff in
den Krieg zum ersten Mal ihre wahre internationale Bedeutung und Stärke. Damit
hatten die beiden Schauspieler, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts
bestimmen würden, die Weltbühne betreten. In Deutschland indes säte der
Versailler Vertrag die Samen des Hasses, die mit dazu beitragen würden, dass
sich die Welt nur 20 Jahre später in einem noch grausameren Krieg befinden
würde.
Doch es gab längst
nicht nur politische Veränderungen. Man sagt, dass nichts die Technik so
schnell vorantreibt wie der Krieg. Natürlich gilt dies insbesondere für
Militärtechnologien, doch auch das Zivilleben profitiert oftmals von diesem
Fortschritt. Flugzeuge und Panzer, die beiden bestimmenden Waffen des 20.
Jahrhunderts, sahen beide ihre ersten Kampfeinsätze im Ersten Weltkrieg. Vor
allem Flugzeuge machten in diesen vier Jahren eine erstaunliche Entwicklung
mit. Waren sie anfangs noch „ein Spielzeug ohne militärischen Wert“, wie sich
ein General ausdrückte, Hobbybasteleien verrückter Erfinder und Tüftler, so
etablierten sie sich während des Krieges als eine unersetzliche Waffe, die
rasant verbessert wurde. So kam es, dass nach dem Krieg die ersten
Luftfahrtgesellschaften eingerichtet werden konnten, die Passagiere und Güter
viel schneller transportierten, als man es zuvor für möglich gehalten hatte.
Auch die Gesellschaft
durchlebte einen tiefgreifenden Wandel. Zwischen der Industriellen Revolution
und dem Kriegsausbruch hatte sich das tägliche Leben in Europa nicht viel
verändert. Patriotismus, Nationalismus und Untertanengeist gehörten zu den
bestimmenden sozialen Gefühlen. In England lebte man in der goldenen Epoche der
Victorian und Edwardian Herrschaftszeiten. In Deutschland war man stolz auf das
neue Kaiserreich, die Chance, endlich einen „Platz an der Sonne“ zu ergattern.
Es war eine sorgenfreie Zeit, zumindest für die bürgerlichen und adeligen
Schichten. Den Krieg sah man als eine ehrenhafte Auseinandersetzung in fast
sportlichem Geiste zwischen zwei Armeen, die für ihr Vaterland kämpften. Doch
dann kam der Weltkrieg.
Plötzlich fand der
Krieg nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld statt. Er betraf jetzt jeden. Mit
Seeblockaden und U-Bootkrieg schnürten sich die Kontrahenten gegenseitig die Kehle
ab, das ganze Volk litt unter Nahrungsmittelknappheit. Jeder musste mit
anpacken; wer nicht kämpfen konnte, musste in die Fabriken und Munition
herstellen oder sich anderweitig am „war effort“ beteiligen, wie die Engländer
den nationalen Kraftakt bezeichneten. Und jeder verlor Freunde, Verwandte,
Bekannte in den Schützengräben Frankreichs. Mit einer ehrenhaften
Auseinandersetzung unter zivilisierten Völkern hatte dieses Massenschlachten,
dieser totale Krieg wenig zu tun. Beim nächsten Krieg, der über Europa
hereinbrechen würde, würde es keine Massen mehr geben, die auf der Straße den
Kriegsausbruch feiern. Der Krieg, früher noch verherrlicht, war zum
Schreckgespenst geworden.
Frauen, die während den
Kriegsjahren genauso hart gearbeitet hatten wie Männer, konnte man das
Wahlrecht nicht länger vorenthalten – sowohl Deutschland als auch England gaben
es ihnen in der Nachkriegszeit. Sie waren überhaupt sehr viel emanzipierter,
die Frauen; sie fingen an, in der Öffentlichkeit Hosen zu tragen und zu
rauchen, was zehn Jahre zuvor absolut undenkbar gewesen wäre. Auch die Grenzen
zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft waren verwischt worden.
Adelige hatten mit Arbeitern zusammen gekämpft und waren zusammen gefallen,
zuhause litten Bürger wie Bauern unter Hunger. Es war der Anfang vom Untergang
der Schichtengesellschaft.
Der Erste Weltkrieg
stellt einen gesellschaftlichen und politischen Wendepunkt dar. Vorbei war der
Glanz des wilhelminischen, des viktorianischen Zeitalters. Die neue Welt war
eine harte Welt der Wirtschaftskrisen und aufstrebenden Diktaturen; fast möchte
man sagen, eine Übergangswelt in den nächsten Weltkrieg. Doch sie war auch der
Vorläufer unserer heutigen Welt, sie war uns ähnlicher als der Welt, die sie
ablöste. Daher kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der „Great War“, der
große Krieg, gleichzeitig auch der große Veränderer war.
Eine sehr schöne Zusammenfassung!
AntwortenLöschenIch denke, man könnte den Krieg nicht nur als Veränderer sehen, sondern auch als "Wecker". Vor dem Krieg war man einerseits in Träumen von Fortschritt, Macht und Sorgenlosigkeit gefangen, aber auch gleichzeitig in einem apathischen Schlaf, der die Demokratie unmöglich machte.
Nach dem Krieg wurde bewusst, dass der Fortschritt auch negative Seiten hat, dass die Machtansprüche der Imperien in die Katastrophe führten und dass es keine sorgenlose Zukunft geben wird. Die Menschen fanden selbst Lösungen für die Zukunft, oder schlossen sich Vorstellungen anderer an, die aber eben keine Herrscher von Gottes Gnaden waren. Diese Lösungen für die Zukunft waren widersprüchlich, und sie sollten sich 20 Jahre später auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.