Montag, 29. Juli 2013

Niklas Götz

Deutschland - die Hegemonialmacht Europas? Eine scheinbar unerhörte These, die die Feuilletonisten der Welt in Atem hielt. Aber ist es wirklich so fragwürdig, eine der weltgrößten Volkswirtschaften als politisch einflussreich zu bezeichnen? Diese Diskussion fasse ich hier mit ihren Kernargumenten zusammen.

  

Wer sich mit entsprechenden Zeitschriften beschäftigt hat, wird eine der am heftigsten geführten Diskussionen zur Europapolitik nicht entgangen sein, da sie den gesamten Kontinent in Atem hielt. Den Anfang machte ein einziger Text, über den alle großen Zeitungen im Feuilletonteil berichteten, selbst renommierte englische Essaymagazine ließen sich zu fragwürdigen Äußerungen herab und kommentierten: „the first unabashed manifesto of German paramountcy in the Union“.1

Dabei fing alles Anfang 2012 nur mit einem Artikel im Merkur des Konstanzer Juraprofessors Christoph Schönberger an , welcher erklärte, Deutschland sei aufgrund seiner wirtschaftlichen Überlegenheit und seinem Einfluss bei der Lösung der Finanzkrise die Hegemonialmacht Europas. Dies bedeutet, dass andere Staaten aufgrund ihrer Unterlegenheit nicht in der Lage sind, ihre Interessen ohne Deutschland durchzusetzen. Aufgrund der Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs fürchtet man sich jedoch bei uns in Deutschland vor dieser Rolle und nimmt sie nicht wahr. Diese unausgefüllte Hegemonie ist jedoch beinahe so gefährlich wie ein Missbrauch derselben, führt sie doch zu einem Machtvakuum. Deshalb forderte Schönberger, dass Deutschland seine Übermacht zum Wohle der Europäischen Union nutzen sollte.

Leider wurde dieser Artikel oftmals alles andere als im Sinne des Autors interpretiert. Die zahllosen Aufschreie, welche durch die intellektuelle Welt hallten, bestätigten die Argumentation des Autors, dass man geradezu Angst vor einer deutschen Hegemonie habe. Selbst der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb an den Verfasser und warnte vor einem „Führungsanspruch“ Deutschlands in Europa, welcher letztendlich die Vereinigung des Kontinents gefährden könnte. Dabei ist es jedoch umgekehrt. Denn der Führungsanspruch ist nicht selbst herbeigeführt, sondern hat sich wirtschaftlich entwickelt – dies legitimiert die Rolle als „primus inter pares“ und zerstreut Bedenken im Bezug zum letzten Jahrhundert. Solange man diese leitende Rolle in der Bundesrepublik ignoriert, wird die Zusammenarbeit auf supranationaler Ebene empfindlich erschwert. Jeder wartet darauf, dass Deutschland Leitlinien setzt und Machtwörter spricht. Stattdessen hält es sich vornehm zurück.

Neben ideologischen Einwänden konnte man der Diskussion jedoch auch rationale Einwände entnehmen, welche im folgenden kurz dargestellt und daraufhin entkräftet werden sollen.

Einer der wichtigsten ist, dass es Deutschland schlichtweg an entsprechender Macht (militärisch, außenpolitisch, etc.) mangelt, um eine wirkliche Hegemonialmacht zu sein. Dieses Argument rührt jedoch von einem falschen Gebrauch des Wortes Hegemonie im Laufe der letzten Jahre her. Weder die USA noch China sind ein Hegemonialmächte, egal wie oft das behauptet wird. Diese hat nach der Definition einen bestimmenden Einfluss in einem föderativen System (an dem weder die USA noch China teilhaben). Daraus kann man folgern, dass Deutschland keine Supermacht, sondern nur in einem wichtigen Bereich, in diesem Falle der Wirtschaft, seinen Bundespartner überlegen sein muss. Dies ist hier unzweifelhaft der Fall.

Interessanter ist hingegen die These, dass Deutschland seinen Führungsanspruch entweder mit Frankreich oder Großbritannien teilt. Schließlich hätte „Merkozy“ bewiesen, dass es sich hier mindestens um eine Doppelhegemonie handelt. Zweifellos sind die beiden ehemaligen Kolonialmächte außenpolitisch von enormer Bedeutung, zudem sind sie ja auch Atommächte. Doch in Europa selbst hat militärische Überlegenheit kein Gewicht. Außerdem ist vor allem die „Grand Nation“ ein Illusionskünstler, der stets dazu neigt, sich selbst aufzuplustern. Wirtschaftlich gesehen haben jedoch beide Staaten nach der Wiedervereinigung den Anschluss verloren, nicht zuletzt aufgrund fehlender Reformen, wie z. B. die ungeliebte Agenda 2010.

Auch strukturell sei die Union für die Entwicklung von Hegemonien angeblich ungeeignet. Schließlich würden sich ja hier Staaten – unabhängig von ihrer Größe und wirtschaftlicher Leistung, als Gleiche begegnen. Das unbrechbare Rechtsprinzip würde den Versuch, Macht auszuüben, verhindern. Leider sieht die Praxis oftmals anders aus als die Theorie. Nicht nur, dass größere Staaten im Europaparlament ein größeres Stimmgewicht haben – dies reicht bei weitem nicht aus. Aufgrund der fehlenden Bundesgewalt auf Europaebene wird die mächtigste und wichtigste Macht eines föderalen Systems stets zum Mediator verschiedener Meinungen und zum Entscheider. Viele historische Beispiele untermauern dies, betrachtet man z. B. die Rolle Preußens im Deutschen Reich.2

Ein weiteres Missverständnis einiger Kritiker war, dass zu einer Hegemonie auch die Akzeptanz der untergebenen Staaten gehöre. Wer wagt es zu bestreiten, dass Deutschland aufgrund seiner umstrittenen Sparpolitik einen fragwürdigen Ruf vor allem bei den südlichen Staaten der Union hat? Dennoch ist Akzeptanz kein Merkmal einer Hegemonialmacht. Kein Staat mag es, in einem föderativen System einer anderen Macht unterlegen zu sein. Dennoch ist es immerhin besser als außerhalb eines Systems dem direkten und nicht durch rechtlich-institutionelle Regelungen Einfluss eines überlegenen Staates ausgesetzt zu sein. Außerdem entwickeln Hegemonien ebenfalls eine Art von Akzeptanz, nämlich indem sie ihre Stellung zum Wohle der föderativen Organisation einsetzen. Dadurch erhalten sie nach Max Weber eine rationale Legitimation und auch letztendlich Akzeptanz. Zwar ist man immer noch ungeliebt; respektiert wird man aber trotzdem.

Ein weiterer Punkt, der als Gegenargument zu Schönberger verwendet wurde, war viel eher eine Diagnose. Deutschland sei keine Hegemonialmacht, weil es in erster Linie für seine eigenen Interessen arbeite anstatt für die seiner Partnerstaaten. Unbestreitbar ist man hierzulande eher an der Innen- anstatt der Weltpolitik interessiert, was man als Kleinstaaterei bezeichnet (in Anlehnung an den Deutschen Bund, in dem es nur viele kleine Staaten gab, die aufgrund ihrer Größe keine große Politik machen konnten). Dennoch ist die aktive Nutzung der Macht kein zwingendes Merkmal einer Hegemonie, sondern oftmals nur eine Folge derselben. Dieses Argument ist indes brandgefährlich, denn es legitimiert das Nichthandeln mit der Begründung, dass das Handeln ein Merkmal der Notwendigkeit zum Handeln ist. Anders gesagt: Das Argument lautet, dass man das brennende Haus nicht löschen muss, weil die Notwendigkeit zum Löschen nur beim Löschen besteht.

Oft wurde auch behauptet, Deutschland müsse seine Hegemonie überhaupt nicht durchsetzen, es solle sich eher auf den Weltmarkt konzentrieren und lediglich den Rückhalt durch den europäischen Markt sicherstellen. Dies würde bedeuten, dass man die Eurozone zwar vor dem Zusammenbruch bewahrt, jedoch nicht weiter stabilisiert und sich stattdessen auf eine Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft angesichts der Weltmächte USA und China konzentriert. Hier wird jedoch ein Faktum ignoriert, das für das deutsche Eurodilemma verantwortlich ist: Der Großteil des deutschen Handels findet mit den Ländern der Eurozone statt. Daraus folgt, dass unsere Wirtschaft von der Lage der Eurozone abhängig ist, da wir eine Exportnation sind. Da unsere Produkte qualitativ höherwertiger und gleichzeitig günstig sind, importieren diese Länder deutsche Waren. Dadurch wird jedoch ihre Wirtschaft geschwächt; dies führt zu geringer Kaufkraft und geringerem Import deutscher Waren. Je besser das Preis-Leistungsverhältnis unserer Waren ist, desto mehr wird exportiert und umso schlechter geht es den Eurostaaten und dann wiederum uns. Exportieren wir jedoch nichts, wird unsere Wirtschaft ebenso geschädigt. Deshalb muss es unser Ziel sein, die Wirtschaft der Südstaaten zu stärken, um gleichzeitig exportieren zu können, ohne die dortige Wirtschaft zu schädigen. Demnach darf unsere Aufmerksamkeit auf keinen Fall dem Weltmarkt dienen, sondern einzig und allein unserem Kontinent.

Das einzige Mittel, Europa zu stabilisieren, ohne die deutsche Hegemonie zu nutzen, ist diese über eine europäische Bundesmacht zu vernichten, d. h. eine mächtige und einflussreiche Zentralregierung zu errichten, die auch in nationale Belange eingreifen kann. Wer das nicht will, muss sich mit der deutschen Hegemonie zufriedengeben, mehr noch, eine Verstärkung derselben fordern. Denn sie ist nicht wider der europäischen Idee, nein, sie ist vielmehr notwendig, um den Geist Europas zu erhalten, denn solange Deutschland seine Rolle ignoriert, solange ist Europa in Gefahr. In einem föderativen System muss jemand Leitlinien setzen, ansonsten kann kein Problem gemeistert werden, erst recht nicht ein so großes wie die Schuldenkrise. Natürlich dürfen wir unsere besondere Stellung in Europa nicht ausnutzen. Doch die traumatische Erfahrung des 20. Jahrhunderts wird uns nicht mehr loslassen und bewahrt uns vor Dummheiten. Der Widerstand gegenüber der Hegemonie ist der beste Beweis. Wir müssen aber unsere Ressentiments loslassen und uns der an uns herangetragenen Aufgabe stellen. Wir haben die Chance, Europa mitzugestalten und zu bewahren. Lassen wir sie nicht verstreichen.


1 Anderson, Perry: After the Event. In: The New Left Review, Nr. 73, Januar/ Februar 2012.

2 Vgl. Vondenhoff, Christoph: Hegemonie und Gleichgewicht im Bundsstaat. Preußen 1867-1933. Geschichte eines hegemonialen Gliedstaats. Aachen: Shaker 2011.
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7 Kommentare:

  1. Welche Definition von "Hegemonie" benutzt du denn?

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    1. Meine (und die allgemein gültige) Definition einer Hegemonie ist der "primus inter pares" innerhalb eines föderalen Systems, der aufgrund einer besonderen Überlegenheit in einer für dieses System wichtige Eigenschaft abhebt und deshalb eine moderierende Rolle bei der Entscheidungsfindung einnimmt.

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  2. Ein Problem sehe ich bei der ganzen Sache: nicht nur Deutschland muss seine eigene Hegemonie akzeptieren, sondern auch der Rest der EU. Und das wird schwierig. In vielen (Süd-)Ländern der EU wird Deutschland so wie so schon als zu einmischend empfunden, was z.T. zu massiver Ablehnung führt. Bilder von Merkel in SS-Uniform sind in Griechenland seit Längerem keine Seltenheit mehr. Was passiert, sollte Deutschland anfangen, seinen Führungsanspruch öffentlich zu erheben? Schlimmstenfalls könnte das zu so extremen Verwerfungen führen, dass die EU zerbröckelt. Ich brauche nicht zu sagen, dass diese Folge kontraproduktiv wäre...

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    1. Du hast damit, dass es Deutschland an Akzeptanz bei den Südländern der EU mangelt. Die Behauptung, dass dies durch eine weise (!) Nutzung der hegemonialen Sonderstellung Deutschlands verschlimmert werden würde, kann ich jedoch nicht unterstützen.
      Die Wut der Südländer rührt von der steten Verschlechterung der Lage her. Sie konzentriert sich auf Deutschland, da es sich einerseits aufgrund seiner Geschichte anbietet und andererseits aufgrund der besonderen wirtschaftlichen Stärke Neid entsteht. Daneben wird es als Führungsmacht der EU für die Gesamtsituation verantwortlich gemacht.
      Letzteres wäre auch bei einer Erfüllung der Hegemonialrolle der Fall. Jedoch würde sich die Krise besser entwickeln, da schneller und effizienter bessere Lösungen gefunden werden können.
      Somit braucht man nur begrenzt Angst vor einem stärkeren Hass des Südens zu haben, auch wenn dieser angesichts der Hoffnung auf die europäische Integration bedenklich ist.

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    2. Dass eine starke Führung in der EU die Krise u.U. schneller bewältigen könnte als dies momentan geschieht ist durchaus denkbar. Jedoch ist diese Aussicht nicht unproblematisch. Erstens aus dem oben genannten Grund, und der "allergischen" Reaktion der Südstaaten auf eine offen genannte deutsche Hegemonie (die du zu befürworten scheinst), egal wie "weise" diese durchgeführt wird.
      Zweitens würde dies wahrscheinlich auch bedeuten, dass Deutschland öfters unpopuläre Entscheidungen gegen den Willen mehrerer anderer Länder durchdrücken muss, auch wenn dies zum größten Wohl aller Beteiligten geschieht. Dann befände man sich allerdings auf Messers Schneide zwischen einer freien Staatengemeinschaft auf demokratischen Prinzipien und einem autokratisch geführtem Staatenbund.
      Summa summarum könnte es durchaus sein, dass eine ausgeübte deutsche Hegemonie der beste Weg aus der Eurokrise ist. Jedoch sollte dies so unauffällig und unanstössig wie möglich durchgesetzt werden, unter steter Beachtung der Grundprinzipien der EU.

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    3. Dem stimme ich vollkommen zu. Ich befürworte ein Führungsrolle der EU, die 1. nur innerhalb der Kreise der beratenden Regierunschefs besteht und damit unauffällig ist und 2. im Vergleich zu aktuellen Lage (!) sich um das Wohl der Union und nicht Deutschlands besorgt zeigt. Dies ist das Kernproblem, dass Deutschland seine besondere Rolle nicht aktzepiert und deshalb primär zu seinem eigenen Wohl handelt (à là AFD).
      Ich fordere keinen zentralistisch-autokratischen Staat, sondern ein föderales Bündis, in dem es auch eine autonome Bundesmacht gibt. Der Weg dort hin führt zu einer vorübergehenden inoffiziellen, aber nicht illegalen Führungsrolle Deutschlands unter Beachtung der Souveränität der Mitgliedsstaaten.

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  3. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch folgender Artikel, auch wenn er mittlerweile etwas älter ist: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1623758/

    (Ein hoher polnischer Diplomat forderte 2011 in einer Rede in Berlin, dass Deutschland eine stärkere Führungsrolle in der EU einnehmen soll.)

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