Dienstag, 30. Juli 2013

Daniel Vedder

Am Tag vor dem Verkaufsbeginn des neuen iPhone fängt sie an: die Belagerung der Apple Stores. Die ganze Nacht warten die treuen Applefans, trotzen Kälte und Müdigkeit, während sie stundenlang Schlange stehen. Und das alles, damit sie auch ja unter den ersten 100 Besitzern des neuen Wundergeräts sind. Dass sie in nur 18 Monaten das ganze Theater noch einmal mitmachen werden, wenn die nächste Generation Smartphone erscheint, stört sie nicht. Ihre Mitbürger schütteln über so viel Markentreue nur den Kopf. Woher kommt dieser Neuheitswahn?
Auf den ersten Blick scheint er der Gipfel der Irrationalität zu sein. Schließlich ist das iPhone 4S noch keine zwei Jahre alt, und auch das iPhone 4 funktioniert noch prima. Und so viel Neues lässt sich im iPhone 5 auch nicht finden. Der Bildschirm wurde leicht vergrößert, es ist ein paar Millimeter dünner und die Sprachsteuerung ist verbessert worden. Dafür darf man sich sämtliche externen Lautsprecher und Ohrstöpsel neu anschaffen, da die Apple Techniker beschlossen haben, die Steckerform zu verändern. Und doch blättern die Kunden, ohne sich zu beklagen, mehrere Hundert Euro hin für ein Gerät, das sie nicht brauchen, das keinen nennbaren Fortschritt darstellt, und das in ihren Augen in zwei Jahren schon wieder veraltet sein wird.
Dabei darf man keineswegs nur Applekunden in diese Gruppe der Neuheitsfanatiker einordnen. Sie finden sich quer durch das Spektrum der Computerindustrie. Sei es das nächste „Call of Duty“-Spiel oder der neue Windows Tabletcomputer, es gibt stets ein paar „Verrückte“, die keine Mühen und Kosten scheuen um es sich postwendend zu beschaffen. Und doch, so unverständlich dieser Neuheitswahn Außenstehenden erscheint, spielt er eine wichtige Rolle für unsere Wirtschaft, und sogar für die Menschheit insgesamt.
Simon Sinek, ein amerikanischer Betriebsberater, spricht in diesem Zusammenhang von der „law of diffusion of innovation“, dem Gesetz über die Verbreitung von (technischen) Neuheiten. Laut diesem Marktgesetz wird ein neues Produkt nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn es mindestens 15-18 % der Bevölkerung erreicht hat. Erst nach Überschreiten dieser Hürde kann man sich sicher sein, dass aus ihm ein echtes Massenprodukt wird. Doch wie erreicht man diese goldene Zahl? Hier kommen nun unsere Neuheitsfanatiker ins Spiel. Sie sind es, die ein neues Produkt kaufen, einfach weil es neu ist. Sie sind die „Innovatoren“. Erst nachdem sie das Produkt getestet haben, lässt sich die nächste Bevölkerungsgruppe, die „frühen Übernehmer“, überzeugen, es auch zu kaufen. Wenn diese Gruppe erreicht ist, hat man die 15 % Hürde geschafft, und das Produkt wird allgemein bekannt. Somit spielen die Innovatoren eine zentrale Rolle in der Akzeptanz eines neuen Produkts. Und da die gesamte milliardenschwere Computerindustrie darauf beruht, stets neue Technologien auf den Markt zu bringen, wäre sie ohne diese kleine Gruppe aufgeschmissen.
Doch nicht nur die Computerindustrie würde ohne die Innovatoren leiden. In den letzten 50 Jahren hat die Menschheit eine Entwicklung mitgemacht, wie sie noch nie zuvor gesehen wurde. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der diese vorangeschritten ist, beruht samt und sonders auf dem rasanten Fortschritt der Computertechnologie. Unsere heutigen Smartphones haben schon jetzt mehr Rechenleistung als der Bordcomputer der Apollokapsel, die Neil Armstrong auf den Mond brachte, und laut dem Moore'schen Gesetz wird sich diese Leistung weiterhin alle zwei Jahre verdoppeln. „Ohne fortwährenden Wachstum und Fortschritt verlieren Wörter wie Verbesserung, Leistung und Erfolg ihre Bedeutung“, sagte einst Benjamin Franklin. Wenn also der Fortschritt unserer Gesellschaft auf der Computerindustrie beruht, und der Erfolg der Computerindustrie auf den Innovatoren basiert, können wir es uns leisten, über diese „Neuheitsfanatiker“ zu lästern?
Wir stehen hier vor einem der Paradoxe der modernen Gesellschaft. Der Neuheitswahn, so irrational er für den Einzelnen sein mag, ist gleichzeitig von fundamentaler Bedeutung für den Fortschritt unserer Zivilisation. Es ist an der Zeit, dass wir ihn akzeptieren. Die Belagerung der Apple Stores wird so oder so weitergehen. Und das ist gut so.

6 Kommentare:

  1. Eine interessante Betrachtung einer unterschätzten Bevölkerungsgruppe.
    Dennoch wirft sich mir eine Frage auf: Sind die "Neuheitsfanatiker" wirklich so positiv zu bewerten? Ist ihr Konsumentismus wirklich zum Besten der Gesellschaft? Oder treibt es nicht die Ressourcenverschwendung, die Beschleunigung des Lebens und die Wegwerfgesellschaft voran? Ist neu wirklich immer besser? Fortschritt um jeden Preis? Ich denke, dazu sollte mal ein Text geschrieben werden!

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    1. Natürlich sind nicht alle Aspekte diese Konsumverhaltens positiv zu bewerten. Was ich aufzeigen wollte, ist dass sie nichtsdestotrotz eine wesentlich Triebfeder des technologischen Fortschritts sind. Übrigens denke ich, dass es hier gewisse Parallelen zur kapitalistischen Wirtschafstheorie von Adam Smith gibt: das Individuum handelt aus rein egoistischen Motiven (hier: immer das Neueste zu haben), nützt damit aber der Gesellschaft (indem es den Fortschritt fördert).

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    2. Reiner Konsumentismus fördert nur die Vermarktung neuer Produkte, da er primär nicht auf Fortschritt achtet. Technologische Revolutionen entstehen durch Notstand, neue geistige Strömungen, wissenschaftlichen Fortschritt und Wettbewerb. Nur in Verbindung mit diesen Punkten ist der Neuheitswahn sinnvoll, ansonsten ist er gefährlich.

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    3. Du missachtest dabei, dass Konsumentismus immer auch den Wettbewerb fördert (außer es herrscht ein Monopol, was aber bei der IT-Branche nicht der Fall ist). Hier greift nun die Red-Queen Hypothese der Evolutionsbiologie: Firmen in den technologischen Branchen müssen ihre Produkte notgedrungen ständig weiterentwickeln, wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollen. Der Erfolg eines Unternehmens steht dabei in direkter Relation zu seiner Produktentwicklung (auch wenn dies nicht der einzige Faktor ist).
      Übrigens wird auch die Wissenschaft zu großen Teilen mit Geldern aus der Wirtschaft vorangetrieben, sie bedingen sich also gegenseitig.

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    4. Du missachtest hingegen, dass Konsumentismus nicht die Weiterentwicklung fördert, sondern nur die Vermarktung neuer Produkte. Wir sehen dies wenn zum Beispiel kritisiert wird, dass das neue Smartphone uXY7 keine neuen Features hat im Vergleich zum uXY6 oder gar zum Star79. Dadurch wird auch die Wissenschaft nicht gefördert, sondern nur Marketingagenturen.
      Fortschritt entsteht hier nur, wenn einer der Wettbewerbsteilnehmer wirklich auch auf technologisch neue Produkte setzt.

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  2. Uuups, Quelle vergessen...

    Simon Sinek 2009 "How Great Leaders Inspire Action" TED Talks
    http://www.ted.com/talks/simon_sinek_how_great_leaders_inspire_action.html

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