Daniel Vedder
Am
Tag vor dem Verkaufsbeginn des neuen iPhone fängt sie an: die
Belagerung der Apple Stores. Die ganze Nacht warten die treuen
Applefans, trotzen Kälte und Müdigkeit, während sie stundenlang
Schlange stehen. Und das alles, damit sie auch ja unter den ersten
100 Besitzern des neuen Wundergeräts sind. Dass sie in nur 18
Monaten das ganze Theater noch einmal mitmachen werden, wenn die
nächste Generation Smartphone erscheint, stört sie nicht. Ihre
Mitbürger schütteln über so viel Markentreue nur den Kopf. Woher
kommt dieser Neuheitswahn?
Auf
den ersten Blick scheint er der Gipfel der Irrationalität zu sein.
Schließlich ist das iPhone 4S noch keine zwei Jahre alt, und auch
das iPhone 4 funktioniert noch prima. Und so viel Neues lässt sich
im iPhone 5 auch nicht finden. Der Bildschirm wurde leicht
vergrößert, es ist ein paar Millimeter dünner und die
Sprachsteuerung ist verbessert worden. Dafür darf man sich sämtliche
externen Lautsprecher und Ohrstöpsel neu anschaffen, da die Apple
Techniker beschlossen haben, die Steckerform zu verändern. Und doch
blättern die Kunden, ohne sich zu beklagen, mehrere Hundert Euro hin
für ein Gerät, das sie nicht brauchen, das keinen nennbaren
Fortschritt darstellt, und das in ihren Augen in zwei Jahren
schon wieder veraltet sein wird.
Dabei
darf man keineswegs nur Applekunden in diese Gruppe der
Neuheitsfanatiker einordnen. Sie finden sich quer durch das Spektrum
der Computerindustrie. Sei es das nächste „Call of Duty“-Spiel
oder der neue Windows Tabletcomputer, es gibt stets ein paar
„Verrückte“, die keine Mühen und
Kosten scheuen um es sich postwendend zu beschaffen. Und doch, so
unverständlich dieser Neuheitswahn Außenstehenden erscheint, spielt er eine wichtige Rolle für unsere Wirtschaft, und sogar für die
Menschheit insgesamt.
Simon
Sinek, ein amerikanischer Betriebsberater, spricht in diesem
Zusammenhang von der „law of diffusion of innovation“, dem Gesetz
über die Verbreitung von (technischen) Neuheiten. Laut diesem
Marktgesetz wird ein neues
Produkt nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn es mindestens 15-18
% der Bevölkerung erreicht hat. Erst nach Überschreiten dieser
Hürde kann man sich sicher sein, dass aus ihm ein echtes
Massenprodukt wird. Doch wie erreicht man diese goldene Zahl? Hier
kommen nun unsere Neuheitsfanatiker ins Spiel. Sie sind es, die ein
neues Produkt kaufen, einfach weil es neu ist. Sie
sind die „Innovatoren“. Erst nachdem sie das Produkt getestet
haben, lässt sich die nächste Bevölkerungsgruppe, die „frühen
Übernehmer“, überzeugen, es auch zu kaufen. Wenn diese Gruppe
erreicht ist, hat man die 15 % Hürde geschafft, und das Produkt wird
allgemein bekannt. Somit spielen die Innovatoren eine zentrale Rolle
in der Akzeptanz eines neuen Produkts. Und da die gesamte
milliardenschwere Computerindustrie darauf beruht, stets neue
Technologien auf den Markt zu bringen, wäre sie ohne diese kleine
Gruppe aufgeschmissen.
Doch
nicht nur die Computerindustrie würde ohne die Innovatoren leiden.
In den letzten 50 Jahren hat die Menschheit eine Entwicklung
mitgemacht, wie sie noch nie zuvor gesehen wurde. Die atemberaubende
Geschwindigkeit, mit der diese vorangeschritten ist, beruht samt und
sonders auf dem rasanten Fortschritt der Computertechnologie. Unsere
heutigen Smartphones haben schon jetzt mehr Rechenleistung als der
Bordcomputer der Apollokapsel, die Neil Armstrong auf den Mond
brachte, und laut dem Moore'schen Gesetz wird sich diese Leistung
weiterhin alle zwei Jahre verdoppeln. „Ohne fortwährenden Wachstum
und Fortschritt verlieren Wörter wie Verbesserung, Leistung und
Erfolg ihre Bedeutung“, sagte einst Benjamin Franklin. Wenn also
der Fortschritt unserer Gesellschaft auf der Computerindustrie
beruht, und der Erfolg der Computerindustrie auf den Innovatoren
basiert, können wir es uns leisten, über diese „Neuheitsfanatiker“
zu lästern?
Wir
stehen hier vor einem der Paradoxe der modernen Gesellschaft. Der
Neuheitswahn, so irrational er für den Einzelnen sein mag, ist
gleichzeitig von fundamentaler Bedeutung für den Fortschritt unserer
Zivilisation. Es ist an der Zeit, dass wir ihn akzeptieren. Die
Belagerung der Apple Stores wird so oder so weitergehen. Und das ist
gut so.
Eine interessante Betrachtung einer unterschätzten Bevölkerungsgruppe.
AntwortenLöschenDennoch wirft sich mir eine Frage auf: Sind die "Neuheitsfanatiker" wirklich so positiv zu bewerten? Ist ihr Konsumentismus wirklich zum Besten der Gesellschaft? Oder treibt es nicht die Ressourcenverschwendung, die Beschleunigung des Lebens und die Wegwerfgesellschaft voran? Ist neu wirklich immer besser? Fortschritt um jeden Preis? Ich denke, dazu sollte mal ein Text geschrieben werden!
Natürlich sind nicht alle Aspekte diese Konsumverhaltens positiv zu bewerten. Was ich aufzeigen wollte, ist dass sie nichtsdestotrotz eine wesentlich Triebfeder des technologischen Fortschritts sind. Übrigens denke ich, dass es hier gewisse Parallelen zur kapitalistischen Wirtschafstheorie von Adam Smith gibt: das Individuum handelt aus rein egoistischen Motiven (hier: immer das Neueste zu haben), nützt damit aber der Gesellschaft (indem es den Fortschritt fördert).
LöschenReiner Konsumentismus fördert nur die Vermarktung neuer Produkte, da er primär nicht auf Fortschritt achtet. Technologische Revolutionen entstehen durch Notstand, neue geistige Strömungen, wissenschaftlichen Fortschritt und Wettbewerb. Nur in Verbindung mit diesen Punkten ist der Neuheitswahn sinnvoll, ansonsten ist er gefährlich.
LöschenDu missachtest dabei, dass Konsumentismus immer auch den Wettbewerb fördert (außer es herrscht ein Monopol, was aber bei der IT-Branche nicht der Fall ist). Hier greift nun die Red-Queen Hypothese der Evolutionsbiologie: Firmen in den technologischen Branchen müssen ihre Produkte notgedrungen ständig weiterentwickeln, wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollen. Der Erfolg eines Unternehmens steht dabei in direkter Relation zu seiner Produktentwicklung (auch wenn dies nicht der einzige Faktor ist).
LöschenÜbrigens wird auch die Wissenschaft zu großen Teilen mit Geldern aus der Wirtschaft vorangetrieben, sie bedingen sich also gegenseitig.
Du missachtest hingegen, dass Konsumentismus nicht die Weiterentwicklung fördert, sondern nur die Vermarktung neuer Produkte. Wir sehen dies wenn zum Beispiel kritisiert wird, dass das neue Smartphone uXY7 keine neuen Features hat im Vergleich zum uXY6 oder gar zum Star79. Dadurch wird auch die Wissenschaft nicht gefördert, sondern nur Marketingagenturen.
LöschenFortschritt entsteht hier nur, wenn einer der Wettbewerbsteilnehmer wirklich auch auf technologisch neue Produkte setzt.
Uuups, Quelle vergessen...
AntwortenLöschenSimon Sinek 2009 "How Great Leaders Inspire Action" TED Talks
http://www.ted.com/talks/simon_sinek_how_great_leaders_inspire_action.html